Deutschösterreich
Vorgeschichte
Mit dem sich abzeichnenden militärischen Zusammenbruch im Herbst 1918 und der daraus resultierenden Niederlage der k. u. k. Armee im Ersten Weltkrieg begann der Zerfall Österreich-Ungarns. Kroaten, Serben und Slowenen (6. Oktober), Polen (7. Oktober) und Tschechen (28. Oktober) erklärten ihre Unabhängigkeit von der Habsburgermonarchie und riefen eigene Staaten aus. Am 24. Oktober erklärte die ungarische Regierung die Realunion mit Österreich – mit Zustimmung des Königs – zum Monatsende als erloschen. Am 30. Oktober wurde durch die Provisorische Nationalversammlung der Staat Deutschösterreich konstituiert. Mit dem Waffenstillstand vom 3. November schied Österreich offiziell aus dem Ersten Weltkrieg aus. Als Kaiser von Österreich verzichtete Karl I. am 11. November 1918 „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften“,[5] zwei Tage später erklärte er den gleichen Verzicht als König Karl IV. von Ungarn. Ungarn blieb nach einem Zwischenspiel als Räterepublik ein verkleinertes Königreich ohne König. Weite Gebiete wechselten zum Kriegssieger Italien, zum neuen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben, zu Rumänien und zu Polen, das als Staat aus Teilen Altösterreichs, des Deutschen Reiches und Russlands wieder erschaffen wurde.Gründungsphase
Am 16. Oktober 1918 hatte Kaiser Karl I. in seinem Völkermanifest an Stelle der cisleithanischen Reichshälfte die Bildung eines Staatenbundes mit ihm als Kaiser angeregt. (Im Königreich Ungarn unterblieb eine ähnliche Initiative, da die magyarische Regierung an der Einheit der historischen Gebiete des Königreichs festhalten wollte.) Am 21. Oktober 1918 traten die zuletzt 1911 gewählten Reichsratsabgeordneten des deutschen Österreich (ihre Funktionsperiode war im Krieg bis 31. Dezember 1918 verlängert worden) im niederösterreichischen Landhaus in Wien als Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten zusammen (es handelte sich ausschließlich um Männer).[6] Sie übernahmen die Idee des Staatenbundes nicht. Zu dieser konstituierenden Sitzung kamen von den insgesamt 516 Reichsratsabgeordneten die 208 Vertreter jener Gebiete der Monarchie zusammen, die überwiegend deutsch, also deutschsprachig, besiedelt waren.[7] Es handelte sich um 65 christlichsoziale und 37 sozialdemokratische Abgeordnete sowie 106 Vertreter deutschnationaler und liberaler Gruppierungen.[8] Zu gleichberechtigten Präsidenten der Versammlung wurden Franz Dinghofer (Deutschnationale Bewegung), Jodok Fink (Christlichsoziale Partei) und Karl Seitz (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) gewählt (sie wechselten sich in ihren Funktionen wöchentlich ab). Für sich selbst beschloss die Versammlung den Namen Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich,[9] womit die amtliche Staatsbezeichnung festgelegt war. Diese war schon Jahrzehnte vorher in der politischen Publizistik verwendet worden; z. B. brachte der spätere erste Bundespräsident Österreichs, Michael Hainisch, 1892 eine statistisch-volkswirtschaftliche Studie unter dem Titel Die Zukunft der Deutschösterreicher heraus. Seitz, bis 4. März eines der drei Staatsoberhäupter, vom 5. März 1919 an das republikanische Staatsoberhaupt, erklärte nach seiner Wahl: „Wir legen heute den Grundstein für ein neues Deutschösterreich. Dieses neue Deutschösterreich wird errichtet werden nach dem Willen des deutschen Volkes.“[10] Speziell die Sozialdemokraten und die Großdeutschen verbanden damals mit dem Begriff „Österreich“ die vergangene Habsburgermonarchie. Karl Renner hatte daher in seinem im Oktober 1918 entstandenen, vor der Beschlussfassung mehrfach geänderten Entwurf zur provisorischen Verfassung den neuen Staat als „Südostdeutschland“ bezeichnet.[11] Auch Namen wie „Hochdeutschland“, „Deutsches Bergreich“, „Donau-Germanien“, „Ostsass“, „Ostdeutscher Bund“, „Deutschmark“, „Teutheim“, „Treuland“, „Friedeland“ oder „Deutsches Friedland“ waren als Vorschläge in Umlauf.[12] Schließlich setzten sich die christlichsozialen Politiker durch, die den Österreich-Begriff nicht völlig aufgeben wollten. Von der provisorischen Nationalversammlung wurde- (vergeblich) die Gebietsgewalt über alle cisleithanischen Gebiete mit einer mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerung beansprucht,
- die Wahl der konstituierenden Nationalversammlung angekündigt (sie fand am 16. Februar 1919 statt),
- aus der Mitte der Abgeordneten am 30. Oktober 1918 ein Vollzugsausschuss, der Staatsrat, mit den drei Präsidenten der Nationalversammlung und 20 weiteren Mitgliedern (darunter der Staatskanzler und der Staatsnotar), gewählt und es wurden
- weitere fünf Ausschüsse der Provisorischen Nationalversammlung konstituiert.[13]
Der neue Staat
Erste Regierung
Am 30. Oktober 1918 ernannte der Staatsrat unter Vorsitz von Karl Seitz die erste Regierung (Staatsregierung Renner I); mit deren Angelobung am Folgetag war die Staatswerdung abgeschlossen. Staatskanzler der Konzentrationsregierung aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen wurde der Sozialdemokrat Karl Renner. Gleichzeitig amtierte in den ersten Novembertagen 1918 noch die kaiserlich-königliche Regierung Lammasch, deren Zuständigkeitsbereich sich innerhalb einer Woche von ganz Cisleithanien auf das verkleinerte deutsche Restösterreich bzw. das neue Österreich (der österreichische Name sollte im neuen Staatsnamen erhalten bleiben) reduziert hatte. Sie administrierte die Auflösung des früheren Staatsgebietes, soweit sie von Wien aus zu beeinflussen war, übergab ihre Deutschösterreich betreffenden Agenden Anfang November der Staatsregierung Renner I, wurde aber auf Wunsch des Kaisers erst am 11. November 1918 von ihm enthoben, als er seine Verzichtserklärung abgegeben hatte.Klärung der Staatsform
„Im voraus erkenne ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft. Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen. Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften.“
– Wiener Zeitung, Nr. 261, Extra-Ausgabe, 11. November 1918
Proklamation der Republik
Zu diesem Zeitpunkt war für den 12. November von den neuen Politikern längst die Ausrufung der Republik vereinbart worden: Die Provisorische Nationalversammlung trat im bis dahin dem – sich am gleichen Tag de facto selbst auflösenden – Reichsrat unterstehenden Parlamentsgebäude zusammen und beschloss mit nur zwei Gegenstimmen das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich.[2] Das Gesetz zählt zu den wesentlichen Bausteinen der Bundesverfassung des neuen Staates. Die ersten beiden Artikel lauteten:„Artikel 1. Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt. Artikel 2. Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich.“
Gebietsansprüche
- Niederösterreich (und dem südmährischen Kreis Znaim)
- Oberösterreich (und dem deutschen Südböhmen um Krumau)
- Steiermark (inklusive Marburg an der Drau, jedoch ohne die slowenische Untersteiermark)
- Kärnten (inklusive das mehrheitlich slowenisch besiedelte Südkärnten sowie das dreisprachige Kanaltal)
- Tirol (mit Südtirol und ganz Ladinien, jedoch ohne das Trentino)
- Vorarlberg
- Salzburg
- Provinz Deutschböhmen (mit den Städten Eger, Karlsbad, Aussig und Reichenberg)
- Provinz Sudetenland (Nordost-Böhmen, Nord-Mähren sowie Österreichisch-Schlesien)
- die „Einschlussgebiete“ Iglau, Olmütz und Brünn (Sprachinseln mehrheitlich deutscher Städte in tschechischem Gebiet)
Das Ende des Staatskonzepts Deutschösterreichs
- Deutschböhmen mit 14.496 km² und 2,23 Mio. Einwohnern;
- den Böhmerwaldgau (an Oberösterreich anzuschließen) mit 3.280 km² und 183.000 Einwohnern;
- das Sudetenland mit 6.533 km² und 678.800 Einwohnern;
- den Kreis Deutsch-Südmähren (an Niederösterreich anzuschließen) mit 1.840 km² und 173.000 Einwohnern;
- die Sprachinseln Brünn mit 140.000 Einwohnern,
- Olmütz mit 48.000 Einwohnern sowie
- Iglau mit 37.000 Einwohnern;
- weiters an Niederösterreich anzuschließende südmährische Gemeinden mit 385 km² und 22.900 Einwohnern;
- im Norden somit 27.022 km² und 3.515.509 Einwohner,
- Deutsch-Südtirol mit 6.496 km² und 250.861 Einwohnern.
„Artikel 1. Deutschösterreich in seiner durch den Staatsvertrag von St. Germain bestimmten Abgrenzung ist eine demokratische Republik unter dem Namen ‚Republik Österreich‘. […] Artikel 2. Wo in den geltenden Gesetzen von der Republik Deutschösterreich oder von ihren Hoheitsrechten die Rede ist, hat an Stelle dieser Bezeichnung nunmehr der Name ‚Republik Österreich‘ zu treten. Artikel 3. In Durchführung des Staatsvertrages von St. Germain wird die bisherige gesetzliche Bestimmung: ‚Deutschösterreich ist ein Bestandteil des Deutschen Reiches‘ […] außer Kraft gesetzt.“
Siehe auch
- Münchner Abkommen
- Böhmische Gebiete Deutschösterreichs
- Deutsche in der Ersten Tschechoslowakischen Republik
Literatur
- Bundesministerium für Unterricht (Hrsg.): Österreich, freies Land – freies Volk. Dokumente, Band 3. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1957.
- Zbyněk A. Zeman: Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches, 1914–1918. Verlag für Geschichte und Politik/Oldenbourg, Wien/München 1963 (Original: The break-up of the Habsburg Empire, 1914–1918. Oxford University Press, London/New York 1961).
- Rudolf Neck (Hrsg.): Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente. Verlag Oldenbourg, München 1968, OBV.
- Friedrich Funder: Vom Gestern ins Heute. Aus dem Kaiserreich in die Republik. Verlag Herold, Wien 1971³, OBV.
- Walter Goldinger, Dieter A. Binder: Geschichte der Republik Österreich, 1918–1938. Verlag für Geschichte und Politik, Wien 1992, ISBN 3-7028-0315-7.
- Karl Glaubauf: Die Volkswehr 1918–20 und die Gründung der Republik. Stöhr-Verlag, Wien 1993, ISBN 3-901208-08-9.
- Wilhelm Brauneder: Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht. Amalthea Verlag, Wien/München 2000, ISBN 3-85002-433-4.
Weblinks
Commons: Deutschösterreich – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
- Staatsgesetzblätter 1918. In: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, Jahrgang 1918 (Online bei ANNO).
- Staatsgesetzblätter 1919. In: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, Jahrgang 1919 (Online bei ANNO).
- Eintrag zu Deutschösterreich im Austria-Forum (im AEIOU-Österreich-Lexikon), 28. März 2014, abgerufen am 28. Oktober 2014.
- Reinhard Mußgnug: „Deutschland und Österreich am Ende des Ersten Weltkriegs – Die Geschichte einer gescheiterten Wiedervereinigung“ auf YouTube, abgerufen am 20. Juni 2019.
- Rolf Steininger: Anschlusspläne Österreichs und österreichischer Bundesländer nach 1918, in: historisches-lexikon-bayerns.de, 14. Oktober 2013, abgerufen am 28. Oktober 2014.
Einzelnachweise
- Wiener Zeitung Nr. 273 (Digitalisat), S. 14, linke Spalte.
- Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich. StGBl. Nr. 5/1918. In: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, Jahrgang 1918, S. 4 f. (Online bei ANNO).
- Gesetz über die Staatsform. StGBl. Nr. 484/1919. In: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, Jahrgang 1919, S. 1153 (Online bei ANNO).
- Gesetz vom 21. Oktober über die Staatsform. St.G.Bl. Nr. 484. In: Hans Kelsen, Matthias Jestaedt (Hrsg.): Veröffentlichte Schriften 1919–1920. Band 5. Mohr Siebeck, 2011, ISBN 978-3-16-149984-5, S. 447 (online).
- Karl I.: (…) Kundgebung (…) (Verzichtserklärung). In: Extra-Ausgabe der Wiener Zeitung, 11. November 1918, S. 1 (Online bei ANNO).
- Stenographisches Protokoll der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten. Wien, am 21. Oktober 1918. In: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich, Jahrgang 0001, S. 1–12. (Online bei ANNO).
- Bundesministerium für Unterricht (Hrsg.): Österreich, freies Land – freies Volk, S. 139.
- Goldinger, Binder: Geschichte der Republik Österreich, 1918–1938, S. 14.
- Stenographisches Protokoll der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten. Wien, am 21. Oktober 1918. In: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich, Jahrgang 0001, S. 6. (Online bei ANNO).
- Neck: Österreich im Jahre 1918, S. 75.
- Goldinger, Binder: Geschichte der Republik Österreich, 1918–1938, S. 19.
- Ernst Bruckmüller, in: Österreichische Galerie Belvedere: Das neue Österreich. Wien 2005, S. 242.
- Neck: Österreich im Jahre 1918, S. 77.
- Ludwig Karl Adamovich, Bernd-Christian Funk, Gerhart Holzinger, Stefan L. Frank: Österreichisches Staatsrecht. Band 1: Grundlagen. Springers Kurzlehrbücher der Rechtswissenschaft. Springer, Wien 1997, ISBN 3-211-82977-6, S. 72 ff.
- Goldinger, Binder: Geschichte der Republik Österreich, 1918–1938, S. 28 f.
- Stenographisches Protokoll. 2. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich. Mittwoch, den 5. März 1919. In: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich, Jahrgang 0002, S. 26. (Online bei ANNO).
- Carlo Moos: Südtirol im St. Germain-Kontext. In: Georg Grote, Hannes Obermair (Hrsg.): A Land on the Threshold. South Tyrolean Transformations, 1915–2015. Peter Lang, Oxford/Bern/New York 2017, ISBN 978-3-0343-2240-9, S. 27–39, hier S. 29–30.
- Protokoll über die konstituierende Landesversammlung in Steiermark am 6. November 1918. In: Landesgesetz- und Verordnungsblatt für das Land Steiermark, Jahrgang 1918, Stmk LGBl 1918/78, S. 232. (Online bei ANNO).